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Die Fahrt

Wie so oft in den letzten Monaten stand sie am Bahnsteig Nr.4, die vermutlich eiskalten Hände heute tief in den Taschen des braunen Ledermantels vergraben.

Es war verflucht kalt geworden in den letzten Tagen. Den hellen Wollschal über Mund und Nase gezogen stand sie da und schaute dem einfahrenden Zug entgegen. Das metallische Quietschen der Bremsen war höllisch laut, doch sie schien es nicht zu bemerken. Wie immer wirkte sie, als wäre sie in einem Tagtraum gefangen, könne nicht heraus. Der Zug hielt endlich an, die Türen öffneten sich langsam und schwerfällig. Sogleich strömten in hektischer Eile die Fahrgäste heraus, sie wirkten gestresst und ungeduldig, als würden sie ihre Umgebung kaum wahrnehmen. Als der Strom der Menschen abriss, die aus dem Zug stiegen, folgte er der Unbekannten in das Großraumabteil, setzte sich ihr gegenüber. Er wusste nicht warum, er konnte sie heute nicht gehen lassen. Seine Fahrkarte war für die Gegenrichtung ausgestellt, fiel ihm jetzt ein. Egal, er konnte jetzt nicht mehr zurück. Dieses unbändige Gefühl in ihm, er müsse in ihrer Nähe bleiben, ließ seiner Vernunft keine Chance für klare Gedanken mehr. Auf dem Gleis gegenüber sah er den Zug abfahren, der ihn normalerweise nach Hause brachte. Noch nie hatte er eine Veränderung an ihrem Gesichtsausdruck feststellen können. Vielleicht war das der Grund, warum sie ihn so sehr faszinierte. Seit Monaten sah er sie fast täglich am Bahnhof, sie schien immer zur selben Zeit Feierabend zu haben wie er. Selbst, wenn er den Zug eine Stunde früher oder später nahm, war sie da. Und immer ging diese Anziehungskraft von ihr aus. Jedoch noch nie, und das wurde ihm jetzt erst bewusst, so stark wie heute. Er würde zu spät zum Training kommen, wusste nicht einmal, ob später noch Züge in Richtung Heimat fahren würden. Doch daran verschwendete er keinen weiteren Gedanken. Für ihn schien die Welt still zu stehen, so sehr zog sie seine Aufmerksamkeit auf sich. Ob sie wohl bemerken würde, dass er sie anstarrte? Es war ihm etwas unangenehm, doch er konnte nicht anders. Sie schaute aus dem Fenster heraus, noch immer den gleichen Gesichtsausdruck. So, als würde sie mit offenen Augen träumen, wäre gar nicht anwesend. Ihre Kleidung war etwas altmodisch, doch er schätzte sie nicht älter als 25 Jahre. Woher sie wohl kam? Ihm fiel auf, dass er gar nicht wusste, wohin dieser Zug fuhr. Die Gegend kam ihm auch völlig unbekannt vor. Nun begann er auch zu überlegen, was er denn tun sollte. Wenn er ihr nun schon folgte, dann müsste er sie zumindest auch ansprechen, oder? „Das ist unmöglich“ stöhnte er in Gedanken. Er schloss kurz die Augen, nur einen Moment. „Die Fahrscheine, bitte“ tönte es von der Tür her. Oje, jetzt flog er auf. Er öffnete die Augen und schaute zu ihr rüber. Sie war nicht mehr da. Verwirrt schaute er sich um, doch er konnte sie nirgends entdecken. Auf ihrem Platz saß ein älterer Herr und schaute ihn leicht amüsiert an. „ Na, junger Mann, keinen Fahrschein dabei, was?“ schien er zu denken. Ihm wurde klar, dass er geträumt haben musste und wohl doch im richtigen Zug saß. Er zog seine Fahrkarte heraus. Der Schaffner schaute kurz darauf und sah ihn dann mit großen Augen an. „ Das hier ist nicht der Zug nach Mannheim, wir fahren nach Kassel“ hörte er den Mann in Uniform sagen. „ Da haben sie aber großes Glück gehabt, dass sie sich gerade heute vertan haben. Der Zug nach Mannheim ist vor 15 Minuten verunglückt. Man weiß noch nicht, ob es Überlebende gibt.“ Der Bahnbedienstete verließ das Abteil. Er schaute ihm stumm hinterher.

Geschrieben von Harald am 8. Juni 2012