Darf ich bitten …
Darf ich bitten? Schon wieder einmal hat die Bahn Verspätung. Mein Gesicht spiegelt sich in den Scheiben, draußen ist es bereits dunkel. Ich sehe die Menschen auf der anderen Seite des Ganges. Einige lesen, andere schlafen. Ein Pärchen küsst sich hingebungsvoll. Der Zug fährt in die Haltestelle ein. Leute steigen aus, neue ein. Ein Mann mit akkurat sitzender Frisur, sein dunkles Haar ist silbern durchwoben und glänzend, spricht den Zugführer an. Ich verstehe nicht worüber sie reden. Der Mann zündet sich nervös eine Zigarette an. Schützend hält er die linke Hand vor die Flamme.Er stößt kleine weiße Ringe aus seinem Mund und wieder zieht er an dem Stängel. Auf ein Zeichen des Zugführers hin lässt er die Kippe fallen, rutscht ein paar Mal mit dem Fuß darüber, dann betritt er den Zug. Ich kenne ihn. Es ist Jahre her. Er trägt noch immer einen Anzug, doch heute wirkt er schäbig. Seine Ausstrahlung ist trotzdem elegant wie eh und je. Ich sehe ihn noch vor mir.
Vor, vor, Wiegeschritt. Schwarze Hochglanz polierte Schuhe. Rück, Seit`, Schluss. Lang, lang, kurz, kurz, lang. So habe ich seine Stimme noch im Ohr. Damals hatte er keine Bartstoppeln. Ich vergötterte ihn, hätte was dafür gegeben nur einmal in seinen Armen zu liegen. Slow, linker Fuß geknickt, slow, Haltung nach vorn, Valentino. Ja, Valentino benannt nach der Positur. Seine tiefschwarzen, fordernden Augen wirken heute nervös. Trotzdem sein Gesicht ist nach wie vor geradezu aristokratisch. Quick, quick, slow. Du siehst müde aus. Damals war das anders. Sie, die blonde Schönheit, wenn sie den Raum betrat, brachte sie das Feuer in deinen Augen zum Lodern.
Ich sehe es noch vor mir. Sie kam mit einem eleganten Hüftschwung, ihr Kopf mit dem Haarknoten am Hinterkopf bog sich herausfordernd nach hinten.
Die Geige ertönte, schön und einfühlsam und dennoch in einem harten Takt. Schwungvoll schleuderst du dein Jackett in die Ecke. Dein Hemd ist weit geöffnet, einige Brusthaare sind sichtbar. Sie hebt die Arme und winkelt ein Bein an, fast wie zum Sprung. Der Schlitz in Ihrem roten Kleid ist gewaltig, atemberaubend. Ihr Fuß sinkt zurück auf den Boden, sie dreht sich schnell einige male um sich selbst um dann in deine Arme zu gleiten. Zwei kurze Schritte, einer langsam. Beide geht ihr in die Knie mit einem langgestrecktem Bein. Deine Hand liegt auf ihrem Rücken. Eine Locke fällt dir in die Stirn.
Sachte, eng aneinander geschmiegt richtet ihr euch auf, entfernt euch durch einige Drehungen. Mit exakten hüftdrehenden Bewegungen nähert ihr euch. Eine Hand der Schönen liegt auf deiner Brust, du reißt ihren Körper an dich, ihr Bein schlingt sich um deinen Körper. Ihr seht euch in die Augen. Ihre Hüfte dreht sich auffordern hin und her während ihr Bein locker und dennoch absolut korrekt im Takt schwingt. Der Geiger setzt den Bogen auf die Saiten, behände zieht er ihn darüber. Regen klatscht gegen die Zugfenster. Die dicken Tropfen rollen herunter. Haltestelle. Aussteigen, einsteigen. Du wirkst nervös. Die Türen schließen.
Die Regentropfen fliehen. Quick, quick, slow. Fast bilde ich mir ein meine Füße klopften den Takt. Der Kragen deines Hemdes ist ausgefranst, es hat wohl schon bessere Tage gesehen. Die Hände versinken tief in deinen Taschen. Mit gesenktem Kopf bist du lässig an die Abteilwand gelehnt. Es scheint fast du schläfst. Eins, zwei Wiegeschritt. Blick in die Augen, Kopf nach rechts, Wangen dicht aneinander. Das monotone Geräusch des Zuges ermüdet auch mich. Damals hielt mich die Eifersucht wach. Unbegründet. Wir hatten nichts gemeinsam. Du hast mich nicht einmal gesehen. Verständlich. Ein Lächeln huscht über meine Lippen, bei der Vorstellung ich wäre an ihrer statt gewesen. Ein scharfer Ton zieht durch das Abteil. Die Bremsen quietschen.
Der Zug fährt in den Bahnhof ein. Es regnet nicht mehr, nur ein paar einsame Tropfen bahnen sich ihren Weg über die Scheibe. Die Räder drehen langsamer, der Zug kommt zum stehen. Menschen drängen sich zur Tür, auch du.
Schon längst steckt wieder eine Zigarette zwischen deinen Lippen. Quick, quick, slow. Ich weiß nicht woher ich den Mut nehme, doch ich sage einfach: „Entschuldigung, darf ich bitten? Könnten Sie mir helfen? Mein Rollstuhl passt so schlecht über die Stufe.“ undefined