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Plattenbau

Sie saß einfach nur da. Einfach so. Ohne jegliche Regung. Stundenlang. Nur einmal stand sie auf, um sich ein Glas Wasser zu holen. Um damit auch nur ihre Finger zu benetzen. Ich weiß das so genau weil ich ihr schräg gegenüber wohne. Plattenbauten sind ein Segen. Man ist anonym und trotzdem nie allein. Gestern zum Beispiel habe ich die alte Oma Else beobachtet. Langsam setzte bei ihr Alzheimer ein. Um Punkt 9 Uhr setzte sie sich in ihren Fernsehsessel. Sie zappte zwischen den Gerichtsshows, Morningshows und Talkshows hin und her. Kanal 1, Kanal 2, Kanal 3 bis zu Kanal 12.Und wieder von vorne. Seit ihr Mann gestorben war, hatte sie nicht wirklich Beschäfti-gung. Ihre Kinder kamen auch nur alle Schaltjahre zu Besuch; und das nur um die Enkel abzula-den. Eigens für sie hatte ein einen Fitneßplan entwikkelt aber wie sollte ich ihn ihr übergeben ohne als Voyeur, perverser Spanner dazustehen? Oma Else also saß in ihrem Sessel und als ich wieder hinschaut bemerkte ich wie scih der Sessel hin und herwiegte.
Wie eine Luftmatratze im Wasser. Ich schaut ein weiteres Mal genauer. Sie hatte wohl die Badewanne mit Wasser einlaufen lassen wollen.- und es vergessen- wie so oft. Je-denfalls war das Wasser in ihrem Wohnzimmer auf Kniehöhe gestiegen. Und sie, ja sie schließ seelenruhig in ihrem Sessel. Ich alarmierte die Feuerwehr und den Hausmeister. In der Zeit ließ ich meinen Blick nicht von ihr los. In der Hoffnung ich würde sie dadurch aufwecken können.

Am späten Nachmittag sprach sich im Haus rum, daß sie friedlich in den Tod geschlummert sei. Ihr Herz! Nun hatte ich Angst, daß das leicht pummelige Mädchen schräg gegenüber, sich vom Fenster stürzen würde. Sie sah so deprimiert aus; das konnte ich erkennen obwohl sie mit dem Rücken zu mir saß. Nur ab und an konnte ich sie im Halbprofil erhaschen. Vielleicht hatte ich was an meinem Blick, der fähig ist, Menschen ins Jenseits zu befördern. Sie saß immer noch da. Der Blick auf meine alte heißgeliebte Swatch Uhr, die ich damals von meiner Freundin geschenkt bekam, zeigt mir, daß sie drei Stunden auf dem Fenstersims ausharrte.
Wieso tat sie das? Bisher war sie mir auch nicht aufgefallen. Rosa, so nenne ich sie mal, der klingt schön rund und erinnert mich an die Wirtin unseres Lieblingsitalieners, setzte sich wieder auf, sprang vom Fensterbrett und kam endlos lange nicht zurück. Zehn Minuten später saß sie wieder da; mit einem Hochglanz- Modemagazin in der Hand. Sie fing an die Köpfe der Models auszuschnippeln und liebevoll in tausend kleine Pa-pierfetzen zu zerreissen. Sehr säuberlich, wie mir auffiel. Dann nahm sie einen Bogen Papier; in der Zwischenzeit griff ich zu meinem Fernglas, einem uralten Apparat, den mir mein Opa, ehema-liger Förster vermacht hatte.

So kam das gute Stück mal wieder in seinem ursprünglichen Zweck zum Gebrauch. Normalerweise benutzte ich es immer nur, um die Ritzen in meinem mit Parkett versehenen Wohnzimmers auf mikroskopisch kleine Ungeziefer zu untersuchen. Seit ungefähr vier Jahren hatte ich nämlich eine Phobie entwickelt; die ging so weit, daß ich nicht mal in meinem Bett schlafen konnte, wegen all der kleinen Milben die dort auf meine Hautschüppchen lauerten.
Allein bei dem Gedanken daran schüttelte es mich wieder. Wenn das mein Opa wusste. Der lebte quasi während seines Dienstes in den Wäldern des Schwarzwaldes tagtäglich mit Käfern, Spinnen und anderem Ungetier. Rosa hielt einen Bogenausdruck mit ihren Paßfotos in der Hand.

Sie schnitt äußerst penibel an den Konturen ihres Gesichts und der Haare bis es genau in die zuvor ausgehöhlten Löcher im Modemagazin passte. Da wurden die kopflosen Models, wirklich kopflosen Models, wie man aus Klatschblättern entnehmen konnte, durch ihr Konterfei ersetzt. Sie war wirklich hübsch anzusehen. Die Augen, vielleicht etwas zu tiefliegend, babyblau und eine Nase, die jeden anderen nicht ange-sprochen hätte. Aber ich liebte so unkonventionelle Riechorgane. Im Halbschatten warf die Nase eine nach innen gebogene Sichelform an die Wand.
Und erst ihr Mund; die Lippen kirschrot ange-malt und immer ein wenig geschürzt; ganz so als ob die gleich anfangen würde zu weinen. Jedes-mal wenn ich sie ansah, überkam es mich sie zu umarmen und fest zu drücken. Du bist nicht al-lein, Rosa. Sie massierte sich nach getaner Arbeit die Hand; die vom vielen Zuschneiden wohl ganz ver-krampft sein musste. Ich konnte ein zufriedenes, wohliges Lächeln über ihr vom vielen Nachden-ken blasses Gesicht erhaschen. Sie hüpfte vom Fenstersims und war auf lange Zeit verschwun-den.

Ich ging meiner Arbeit nach; holte das mit Kartoffeln gefüllte Netz aus der Küche, setzte den Topf neben mich ans Fenster und fing an sie zu schälen- nicht ohne meinen Blick von ihrem Fenster abzuwenden. Eine halbe Ewigkeit später sah ich ihren runden Po. Sie hatte sich in die Hocke begeben. Was tat sie denn am Boden? Ich konnte nichts weiter erkennen. Die Kartoffeln noch nicht mal zur Hälfte geschält, ging ich ins Bad um mir die Hände zu waschen und die Haare zu kämmen. Wenn ich auf Rosa treffen wollte, dann musste ich etwas hergeben. Schnell stürzte ich die Treppen hinunter; den Aufzug bediente ich erst gar nicht. Völlig ausser Puste konnte ich nur noch den Ausblick ihres herrlichen Pos genießen. Sie hatte ein Päckchen in den vor der Haustür angebrachten Briefkasten geworfen. Mir juckte es in den Fingern; ich musste wissen, was es war.
Vielleicht konnte mir das Päckchen etwas mehr über meine Rosa erzählen. Ich fischte also im gel-ben Kasten; meine Arme waren wohl zu breit als dass sie richtig hineingreifen konnte. Was sollte ich nun tun? Der Nachbarsjunge beäugte mich argwöhnisch. Er muss eine ganze zeit da gestan-den haben; mir fiel er erst jetzt auf. Was machst du da? Tja was tat ich hier? Da kam mir der Ge-danke. Magst du dir etwas Geld verdienen? Für einen neuen Fußball? Deiner scheint schon sehr abgenutzt zu sein! Der Kleine ließ sich dazu überreden- nach zig Fragen und Antworten- mein Päckchen, dass ich versehentlich ohne Marken eingeworfen hatte und eine Geburtstagsüberra-schung für meine Oma werden sollte, hinauszuholen.

Schwupps war sein Arm drinnen und Rosa’s Päckchen draussen. Ich gab ihm 20 Mark und der kleine Junge ging pfeifend in den naheliegenden Laden um sich ein neues Spielzeug zu holen mit dem er vor seinen Freunden angeben konnte. Ich hielt die sorgfältig mit braunem Packpapier eingewickelte rechteckige Sendung in den Händen und brannte darauf zu erfahren, was Rosa da verschicken wollte. Ich rannte alle 10 Stockwerke zu meiner Wohnung hinauf.
Schlug die Haustür mit solch einer Wucht hinter mir zu, daß die mir von meiner Mutter vermachte Kristallfigurensammlung- bestehend aus Schwänen, Rehkitzen und Ein-hörnern- in ihrem Schränkchen erzitterten. Ich auch- angesichts der Freude Rosas Paket in den Händen zu halten. Ich war mir sicher, daß sie es eigentlich mir schicken wollte. Ja, sie wusste daß ich sie beobachtete und spielte mit mir. Mit einer Schere befreite ich Rosas Vermächtnis aus sei-nem braunem Versteck. Schauernde, wohlige Schauer liefen mir übern den Rücken; meine Finger zitterten und nestelten vielmehr am Papier. Ein Brief kam zu Vorschein; ich roch daran und sah Rosa vor mir. Wie sie frisch geduscht aus der Wanne stieg um sich mit diesem Brombeerduft ein-zuhüllen.

Den Brief wollte ich später lesen. Als nächstes lag mir ein Hochglanzmagazin in den Händen. Ich blätterte darin und fand Rosa. Rosa im Designer- Brautkleid. Rosa in einem Hauch von Tüll und Seide. Rosa in einem sportlich- knappen Dress. Rosa in einem Bikini. Rosa, Rosa, Rosa. Das war es also woran sie die ganze Zeit gearbeitet hatte. Verwirrt und aufgeregt öffnete ich den Umschlag in dem sich der wohlduftende Brief befand. Beim Öffnen fielen mir lauter kleine Glit-zersterne und Herzen auf den Schoß; während ich mit einer Hand den Bogen Papier auseinan-derfaltete, hielt ich mich mit der anderen an der Tischkante fest. Das war zu viel für mein Herz; es rebellierte; es pochte wie verrückt. Ich las, Zeile für Zeile und konnte es nicht glauben. Fiebernd suchte ich im Mülleimer nach dem Packpapier um den Empfänger zu ersehen. Postfach 6969 Ro-sas Handschrift war zart und leicht; schweben muss sie diese Zeilen geschrieben haben. Mein Liebster, du hattest dich immer gefragt wie ich aussehe.

Ich schicke dir nun das versproche-ne Magazin vom dem berühmten Designer und Fotograf, dessen Muse ich bin. Ich hoffe die Bilder gefallen dir und du magst mich genauso gerne wie im Chat…. Ich konnte es nicht glauben. Sie hatte sich so viel Mühe gemacht um einen Chatfreund zu beein-drucken und von sich zu überzeugen? Ich wurde nachdenklich und bekümmert. In dem Moment meldete der Computer: Nachricht für sie von Model 6969.

Geschrieben von Winter am 8. August 2013