Er vergaß, sie niemals
Es ist jetzt 12 Jahre her. Damals waren wir 14. Natürlich, sich Zwölf lange Jahre das Gesicht irgendeinen Menschen zu merken, an dem natürlich auch der Zahn der Zeit nagt, ist nicht selbstverständlich. Wenn es ein ganz besonderer Mensch war, jemand der dich unendlich glücklich gemacht, der dich zum Lachen gebracht, und jemand, der dich verstanden hat, da ist es schon leichter, sich dessen Züge einzuprägen. Aber wenn es der überhaupt allerwichtigste Mensch in deinem Leben war, mit dem du so eine glückliche, ja perfekte Zeit in deinem Leben verbracht hast, das man es gar nicht in Worte fassen kann, der mit dir geweint hat, wenn du geweint hast, der mit dir gekämpft hat gegen deine Feinde, der immer hinter dir stand, den du über alles geliebt hast, dann ist es meiner Meinung nach äußerst wichtig sich sein Gesicht, seinen Charakter, sogar seinen Geruch ganz tief und für immer zu merken. Zumindest so, wie diese Eigenschaften waren. Ich konnte mir sein Gesicht schon immer merken. Ich dachte jeden Tag, an dem ich ihn nicht gesehen habe, trotzdem an ihn. Ich sah ihn nicht mehr, weil seine Mutter sich eingebildet hatte, ihn auf ein Internat zu schicken. Das habe ich nie verstanden und das werde ich wahrscheinlich auch nie. Als ich ihn aber dann gestern auf dem Klassentreffen nach 12 Jahren wieder gesehen habe, ist mir einiges klar geworden. Ich weiß ja, dass ich mich veränderte. Ich ließ mir die Haare wachsen, habe abgenommen und bin Tierärztin geworden. Doch vom Charakter her bin ich die selbe, und vom Aussehen eigentlich auch, nur das ich eben abgenommen habe. Aber meine beste Freundin ist immer noch meine beste Freundin und ich liebe Tiere noch immer über alles. Aber das er sich so verändert hat, das haut mich um.
Er kam, hatte eine Fahne, hat geraucht (nicht das ich etwas gegen Raucher hätte, ich rauche gelegentlich auch) und er hat aber trotzdem irgendwie ausgesehen wie damals. Nur viel größer und kräftiger. Aber vom Charakter hat sich mein ehemals bester, von mir so abgöttisch geliebter Freund total verändert. Er hat mich nicht mal erkannt. Er hat mich verwechselt mit dem Mädchen, das wir in unserer gemeinsamen Schulzeit sosehr hassten. Und ich muss zugeben das hat mir den größten Stich ins Herz gegeben. Ich hatte ihn vermisst. All die Jahre. Ich hatte mich auf das Treffen gefreut. Wollte wissen wie es ihm geht, was er macht, ob er eine Familie hat und, ich gebe zu, auch, ob er an mich gedacht und mich vermisst hat. Aber dazu kam es nicht. Ich bin gegangen. Ich habe ihm nach einer halben Stunde, nach der ich mit diesem, jetzt, arroganten Arschloch redete, in die Augen gesehen und gesagt, dass ich es sei. Und das ich enttäuscht bin. Dann habe ich ihm viel Glück und guten Sex mit seinen Schlampen ( wie er mir es selbst zuvor erzählt hat) gewünscht und bin gegangen.
Jetzt ist mir etwas klar geworden: Nur weil man sich wünscht, dass sich geliebte Menschen aus seiner Vergangenheit nicht verändern, ist das meistens nicht so. Ich wusste, dass ich damals den Kontakt nicht hätte abbrechen lassen dürfen. Man sollte gute Freunde nie einfach ohne Abschied gehen lassen. Für mich war es nämlich an jenem Tag kein ganzer Abschied, sondern nur ein ,,Wir werden uns genauso wie wir jetzt sind wieder sehen. Ganz bald.“ Jetzt weiß ich was ich davon habe. Nie wieder werde ich die Person, an die ich am häufigsten gedacht, und die ich am meisten geliebt habe sehen. Denn wenn wir die Freundschaft nicht pflegen, dann stirbt sie. Und die Menschen mit ihr.