Abschied
In manchen endlosen Augenblicken glaubt man vor Schmerz vergehen zu müssen. Und solch ein Augenblick ist jetzt. Ich knie im Vorzimmer, in inniger Umarmung mit dem jungen Menschenkind, das mir seit ein paar Jahren wieder und wieder bewusst macht, wie wertvoll der einzelne Augenblick ist. Jede Faser meines Körpers ist auf „Empfinden“ eingestellt. Ich vergrabe meine Nase in Annas blonden Haaren und hoffe, dass sich dieser Duft an meinen Schleimhäuten festsetzt. Während wir einander immer fester drücken frage ich mich, wie oft wir diese Situation noch ertragen können. Was das Unerträgliche dennoch erträglich macht, ist die Vorhersehbarkeit mit der dieser Abschied eingetreten ist. Ab dem Moment der Begrüßung drängte sich das Wissen um die Vergänglichkeit des Glücks in jedes Wort, jeden Blick, jede Geste, jede Berührung. Ich weiß, meine kleine Tochter empfindet so wie ich. Ich bemühe mich zu lächeln.
Nur jetzt keine Tränen! Denn diesen letzten Eindruck nimmt sie mit. Dieses Bild wird sie begleiten – bis zu unserem Wiedersehen in zwei Wochen. Unendlich langsam – und dennoch unaufhaltsam – wird unsere Umarmung lockerer.
Eine unsichtbare Kraft veranlasst, dass sich unsere Arme strecken. Solange es nur irgendwie möglich ist, streifen ihre Hände meine Arme entlang. Ich spüre, dass ihre Augen meine Augen suchen; doch ich weiß, dass meine Augen kein Lächeln mehr ausstrahlen können und hefte meinen Blick auf ihre Hände. Schließlich dreht sich Anna mit einem Ruck um und ihre kleine Hand verschwindet in der großen Hand ihres Vaters. Wir trennen uns wortlos, denn es gibt nichts, das wir uns nicht schon gesagt hätten. Mit jedem Schritt, der sie von mir entfernt, schließt sich der Eisenring um meine Brust ein bisschen enger.
Wieder einmal denke ich diesen sinnlosen Satz: „Bitte liebe Zeit, bleibe doch für ein paar Minuten stehen!“ Und doch kann doch den Zeitpunkt nicht erwarten, wo das kleine Mädchen für meine Blicke nicht mehr erreichbar ist, denn dann kann ich mich endlich hemmungslos den Tränen hingeben. Jetzt kann sie mich nicht mehr sehen. Jetzt ist sie von mir getrennt. – Und doch ist sie bei mir. Jetzt kann ich sie nicht mehr sehen. Jetzt bin ich von mir getrennt. – Und doch bin ich bei ihr. Ohne meine bewusste Zustimmung hat sich ein Stück aus mir gelöst und ist mit ihr gegangen. Ganz deutlich spüre ich die Leere, die unter der schmerzenden Wunde zurückgeblieben ist.
Die Zeit steht still. – Warum jetzt?! Irgendwann beruhige ich mich. Ich fühle, wie die Stelle an der ich die Leere spürte, liebevoll heilt. Da erst erkenne ich, was in jenem zeitlosen Augenblick der Trennung vor sich gegangen ist – Es war ein Austausch: ein Stück von mir gegen ein Stück von ihr.