Infarkt
Sie zündete sich eine Zigarette an. Kalter, grauer Rauch waberte träge durch den Raum. „Du rauchst“, fragte er, während er die Bahnen beobachtete, die die Regentropfen auf dem Glas der Fensterscheibe zogen. Das dunkle Zimmer lag hinter ihm und die nasse Scheibe zauberte immer neue Reflexionen auf seinen nackten Oberkörper.
„Was is’ denn schon dabei?“ Sie rekelte sich nackt auf dem Bett seiner Eltern. „Hier steht doch ein Aschenbecher.“ „Nichts“, sagte Jonas. „Gar nichts.“ Das Mädchen schaute ihn belustigt an. „Hast du was gegen Raucher?“ Jonas drehte sich zu ihr um und fixierte sie mit seinem Blick. „Warum sollte ich etwas gegen Raucher haben“, fragte er. Sie lag an der Stelle, an der sie alle gelegen hatten, angefangen mit seinem Vater. Jonas war zehn gewesen, als der Herzinfarkt passiert war.
Er erinnerte sich noch genau. An diesem Tag wollte sein Vater mit ihm in den Zoo. Jahrelang hatte er das schon versprochen, doch an diesem Tag, so schien es, wollte er sein Versprechen endlich wahr machen. Am Abend zuvor war sein Vater nicht in sein Zimmer gekommen, um ihm zu sagen, daß eine Dienstreise, ein Meeting oder eine Standorteröffnung dazwischen gekommen sei.
Am Abend zuvor hatte sein Vater nur gesagt, wie sehr er sich auf den Besuch im Zoo freue und wie glücklich er sei, daß er endlich die Zeit gefunden habe, etwas mit seinem Sohn zu unternehmen. Jonas war früh morgens aufgewacht und aufgeregt in das Schlafzimmer seiner Eltern gelaufen. Seine Mutter hatte ruhig schlafend auf ihrer Seite des Bettes gelegen.
Sein Vater lag ruhig daneben. Kalter Schweiß trocknete auf seiner Stirn. Eine Hand war auf die Brust gepresst, die andere hing aus dem Bett, wie ein fetter Köder an einer Hochseeangel. Die Augen hatten ihren gehetzten Ausdruck verloren und starrten gebrochen zur Decke. Das Gesicht spiegelte eine Angst wieder, die kaum ein lebender Mensch kannte, die aber alle irgendwann kennen lernen würden. Ein Schnake krabbelte langsam über das Gesicht seines Vaters, unschlüssig, ob sie Durst auf totes Blut hatte oder nicht. Auf dem Nachtisch quoll der Aschenbecher wie immer über. Der Geruch nach kaltem Rauch erfüllte den Raum. Jonas schrie. Er schrie, um aus diesem Albtraum aufzuwachen, er schrie, um seinen Vater zu wecken, er schrie, um sich von seinem Schmerz zu befreien und weckte damit seine Mutter. Wenige Augenblicke später, schrieen sie beide. Lagen sich in den Armen und schrieen, während neben ihnen der geliebte Ehemann und Vater langsam wie eine ausgedrückte Zigarette abkühlte. „Warum sollte ich etwas gegen Raucher haben“, wiederholte Jonas und ging langsam auf sie zu.
„Du hattest so einen Ausdruck in deinen Augen, einen Moment habe ich geglaubt, du würdest mich hassen.“ „Ich hasse dich nicht. Im Gegenteil, ich werde dir helfen“, sagte er und bückte sich, um etwas unter dem Bett herauszuholen. „Du willst mir helfen? Wobei?“ „Beim Aufhören“, sagte Jonas und hob die Hand, die nun die alte Axt seines Vaters hielt. Ihre blauen Augen wurden groß wie Pfirsiche und ihre blonden Haare wanden sich aufgeregt, als sie mit dem Kopf zurück zuckte. Dann begann sie zu schreien, aber das war okay, am Ende schrieen sie immer. Wenn sie erkannten, wie sehr sie am Leben hingen, dessen Faden sie jeden Tag mit zwanzig oder mehr Zigaretten bearbeiteten, so daß eine Faser nach der anderen riss, dann schrieen sie. Schade, daß sie aus dieser Lektion nichts mehr lernen konnten. Die Axt sauste runter und beendete das Geschrei.
Jonas nahm der Toten die glühende Zigarette aus der Hand. Einen Moment wirkte es, als wollte er daran ziehen, dann drückte er sie im Aschenbechers seines Vaters aus. Sorgfältig wischte er die Axt am Bettzeug sauber und ließ sie wieder an ihren Platz verschwinden. „Mutter“, rief er. „Ich bin im Garten, Asche begraben. Leerst du den Aschenbecher im Schlafzimmer?“ Langsam öffnete sich die Schlafzimmertür. Eine kleine gebrechliche Frau erschien darin. Einen Moment betrachtete sie die Leiche. „Er soll doch nicht immer so viel rauchen“, sagte sie und begann das Schlafzimmer zu reinigen, während Jonas in den Garten ging.