Traurige Anna
„Neeeiiin!!!“ Max verzieht sein hübsches Gesicht in eine wütende Grimasse und streckt die Zunge heraus. „Ich will nicht ins Bett.“ „Schon wieder trotzig, oh je“, Mama Karin kann ein Lied davon singen. Nach ihrem stressigen Job im Büro hat sie weder Kraft noch Nerven, gegen ihr Nesthäkchen anzukämpfen.
Wie gut, dass Anna ihre Große in diesem Alter so vernünftig und brav war, sonst hätte sie vergebens auf ein Geschwisterchen gehofft. Damals mit Peter war vieles leichter gewesen – vor dem großen Streit. Mit einem Seufzer lässt sie Max auf den Boden zurückgleiten. „Lass’ nur Mama, ich mach’ das schon.“
Beherzt nimmt Anna ihren Bruder an der Hand, der ist davon so überrascht, dass er ohne Widerworte hinter ihr hertrottet. „Nach der Scheidung meiner Eltern war meine Mutter einfach überfordert. Mein Vater zahlte keinen Unterhalt und die Sozialhilfe reichte hinten und vorne nicht. Da habe ich ihr geholfen, so gut ich konnte.“ Anna stockt … und beobachtet, wie sich ihr Psychologe eifrig Notizen macht. Soll sie ihm die ganze Wahrheit sagen? Über die einsamen Nachmittage – während sie auf ihren Bruder aufpassen musste statt draußen mit den Nachbarskindern unbeschwert herumzutoben.
Über die haltlosen Vorwürfe ihrer Mutter – sie wäre faul und undankbar, hänge den ganzen Tag nur herum anstatt im Haushalt mitzuhelfen. Über den mütterlichen Zorn – dessen Schläge so schmerzhafte Erinnerungen hinterlassen haben. Oder, wie mies das Gefühl ist, die sturzbesoffene und bitterlich heulende Mutter liebevoll tröstend ins Bett zu bringen. … sie schweigt, findet keine Worte das Unbeschreibliche auszudrücken.
Ihre Augen füllen sich mit Tränen, wie so oft in letzter Zeit. Anna hat keine starken Wurzeln, die sie halten. Sie besitzt auch keine Flügel, die sie tragen. Aber sie ist meine beste Freundin, denn ich kann mich auf sie jederzeit verlassen.