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Stacheln der Rose

Als Gott dem erdenen Adam die Herzens-Rippe entnahm, um Eva daraus zu formen, fiel ein Blutstropfen auf den Erdboden des Paradieses. Im Verborgenen wuchs daraus eine noch unbekannte Pflanze, zunächst ganz kümmerlich und im Schatten des großen Grüns, das in Eden seit dem dritten Tage wucherte.

„Ich will mich von den anderen Pflanzen unterscheiden“, sprach sie. Gott lächelte und gab ihr Knospen. „Ich will nicht mehr unscheinbar im Dickicht bleiben.“ Das göttliche Lächeln wurde breiter und aus den Knospen wurden Blüten. „Erhebe mich aus dem Dunkel ans Licht“, lautete die nächste Forderung und Gott ließ mit einem Augenzwinkern unter ihren Blüten einen langen, starken Stängel emporsteigen. Immer noch unzufrieden, bat sie um eine weitere Gunst: „Eine Farbe aus der Palette des Regenbogens.“ Um sie endlich glücklich zu machen, gab ihr Gott seine liebste Farbe: Rot. Doch sie murrte weiter: „Mache mich so verführerisch, dass keiner mir widerstehen kann.“ Nun stand eine bedenkliche Falte auf Gottes Stirn, aber er konnte ihr auch diesen Wunsch nicht abschlagen – so beschloss er, ihr eine Lektion zu erteilen.

Als am nächsten Morgen die Sonne aufging, strahlten ihre eleganten Blüten stolz über alle anderen Pflanzen hinweg. Sie reckte und streckte sich und verbreitete ihren himmlischen Duft im ganzen Garten. So wurde Eva auf die Pflanze aufmerksam, ging zu ihr und bewunderte sie. Nach ihrer Farbe gab sie Ihr den Namen „Rose“ und war entzückt über die ungewöhnliche Schönheit. Diese einmalige Kostbarkeit wollte sie ganz für sich allein. So schickte sie Adam, ihr die Blumen zu bringen. Der – blind, taub und unempfänglich für alles Bitten und Flehen – schnitt alle blühenden Stängel ab und nahm diese mit.

„Oh je“, jammerte die Rose über ihren Verlust, „jetzt bin ich wieder klein und unscheinbar. Alles Betteln und Fordern hat mir nur Unglück gebracht.“ Soviel Einsicht rührte an der Gutmütigkeit Gottes und so versprach er ihr noch einen letzten Gefallen. „Gib’ mir Stacheln, damit ich mich wehren kann“, triumphierte sie tückisch.

Darüber war das Menschenpaar sehr erbost und kappte die stacheligen Triebe, bevor sie überhaupt blühen konnten. Da verkroch sich die Rose beschämt in den hintersten Winkel des Gartens und grämte sich über ihre Gier. Doch Gott ließ sie nicht im Stich ob ihrer erlangten Bescheidenheit. „Bist du bereit, für die Liebe der Menschen deinen Stolz und Hochmut zu besiegen?“, fragte er sie. Glücklich, dass Gott sie nicht ächtete, gab sie sich ganz in seine Hand, und es geschah ein Wunder. In all ihrer Zartheit und Unscheinbarkeit war sie den Menschen lieber denn je. Und da ihre Blüten scheu im Verborgenen gedeihen konnten, wurden ihr köstliche Früchte geschenkt: Erdbeeren!

Geschrieben von Karl am 7. Juni 2012